Predigt am 17. 1. 2016 /St. Michael Stelle
Liebe Gemeinde, liebe Freunde,
wir Deutsche sind naiv.
Nach Silvester war es in amerikanischen Zeitungen zu lesen, schwarz auf weiß.
Deutsche, israelische und -natürlich- polnische und ungarische Kommentatoren
usw. hauen in die gleiche Kerbe, genüsslich oder besorgt, je nach dem;
gerne garniert mit dem Beispiel jenes marokkanischen oder algerischen
Kriminellen, der dem ihn greifenden Polizisten grinsend ins Gesicht pfeift:
Du kannst mir gar nichts!
Nun wissen wir das.
Wir sind und wir waren anscheinend naiv.
Seit Silvester werden wir/sind wir bloßgestellt. Als einfältige Schwächlinge.
Als Chaosstaat. — Das fühlt sich nicht gut an.
„Wir schaffen das nicht“.
Hysterie ist angesagt; die „besorgten“ Angst- und Wutbürger finden für ihre
nächtlichen Hasstriaden in der Facebookgruppe keine Steigerungs-Worte mehr
und freuen sich im Übrigen klammheimlich, dass sie es ja gleich gesagt hätten
… Endlich mal wieder recht gehabt. „War doch zu erwarten!“
… und kaufen sich Pfefferspray …
Der „doofe und gutgläubige Michel“, der für alle zahlt und dem jeder auf der
Nase herumtanzen darf; und „die da oben“ sehen nix und hören nix und machen
nix, das ist ja schon seit Jahren ein gerne genommener und stehender Begriff,
ein Gemeinplatz, der unter Garantie Zustimmung und Kopfnicken einbrachte.
— Ich weiß gar nicht, wie oft ich das gehört habe …?
Meinungsstark waren wir allerdings immer … !
Unsere Vorfahren hatten ein wunderbares, fast vergessenes Wort dafür:
Maulhelden!
Der deutsche Michel träumte sich die Stärke des starken Erzengel Michaels, des
„Engels der Deutschen“ und landete in der Gegenwart meist nur maulend …
als Maulheld.
Und nun?
„Nun wird aber etwas gemacht!“
Nun nimmt ein Schauspiel seinen Lauf, die Tragödie ist quasi fest gebucht.
Und so sieht es aus:
Die Menge, die gestern noch applaudiert hat, wird morgen „kreuzige ihn!“ oder
besser gesagt: „kreuzige sie!“ rufen. Ultimaten werden gestellt.
Gestern noch sollte sie für den Friedensnobelpreis benannt werden, morgen soll
sie abgesetzt werden – Angela Merkel, die Bundeskanzlerin.
Ein Opfer muss her.
Eine/r muss ja an allem schuld sein. Kennen wir. Wissen wir.
Auch so eine stehende Gedankenfigur.
Die Rituale sind bekannt.
Eine weiteres Ritual:
„Gutmensch“ ist zum „Unwort des Jahres“ gewählt worden. Ein Gutmensch ist
jener naive Zeitgenosse, der ideologisch fixiert nicht aufhören mag an das Gute
im Menschen zu glauben und dabei jede Wirklichkeit verleugnet.
Waren wir „Gutmenschen“, als wir den Flüchtlingen in unserem Ort ein
freundliches Gesicht und Unterstützung organisierten?
Können wir ausschließen, dass von den 120 mehr oder weniger jungen
Männern, die in den Steller Unterkünften registriert sind, nicht der eine oder
andere in Hamburg oder anderswo Silvester dabei war?
Habe ich mich geirrt, als ich vor ein paar Monaten noch meinen Freunden und
Bekannten versicherte: Ihr braucht keine Angst um eure Töchter haben… ?
Sind wir auf die falschen Menschen zu vertrauensselig zugegangen?
Leider haben wir gegenüber den „Maulhelden“ jetzt ein paar Argumente
weniger. — Zu wenig? – Keine mehr?
Müssen wir uns jetzt schämen, grämen, müssen wir zurückrudern?
Ist es jetzt erwiesen, dass die Bilder und Worte Jesu untauglich, unangebracht
sind, um sie zum Verständnis unserer Gegenwart heranzuziehen?
Ist Freundlichkeit, Hilfe gegenüber Fremden eine naive Dummheit?
Gilt Barmherzigkeit nur noch für Kontingente?
Wenn ich den heutigen Bibeltext/Predigttext aufschlage, dann finde ich, dass
1. solcherart Beschämung, wie ich sie eben geschildert habe im Leben und im
Glauben gar nicht mal so selten vorkommen; ja, sich sogar fast notwendig
einstellen, wenn ich meinen Glauben, und das heißt das Dreifachgebot der
Liebe: du sollst Gott, deinen Nächsten und dich selbst lieben, ernst nehme;
und ich finde 2. die Bestärkung, dennoch nicht nachzulassen, dennoch den
Glauben nicht aufzugeben.
Warum?
Weil es sein kann, dass ich in mitten, unter allen Dingen das große Geheimnis
Gottes entdecke, dass er sich selber nämlich in diese Welt und ihre
Verwicklungen hineinbegibt, um sie dort und so zu heilen.
Ich lese
2. Korinther 4 (Übers.: Klaus Berger)
6 Gott sprach [als er den Kosmos schuf] :
„Wo Finsternis war, soll Licht strahlen.“
Gott selbst ist das Licht in unseren Herzen geworden und
hat uns seine strahlende Herrlichkeit spüren lassen, die
im Widerschein auf dem Antlitz Jesu Christi leuchtet.
7 Sie ist ein unermesslicher Schatz, den ich in meinem Leib wie
in einem Tongefäß verwahre.
Daran wird ganz deutlich, dass die reiche Vollmacht, die ich habe, von
Gott kommt und nicht von mir selbst.
Das zeigt sich auch an meinem Geschick:
8 Immer wieder gerate ich in Bedrängnis, doch nie in Verzweiflung;
ständig gerate ich in tausend Nöte, doch nie in Hoffnungslosigkeit.
9 Ich werde verfolgt und bin doch nicht von Gott verlassen;
ich werde verleumdet und gehe doch nicht unter.
10 Tagtäglich ertrage ich Jesu Leiden und Sterben am eigenen Leibe.
Doch jedesmal rettet mich sichtbar und offenkundig die Kraft des Lebens, die
von Jesus ausgeht.
Das Geheimnis Gottes.
Wir tragen die Herrlichkeit, das Licht Gottes in uns;
allerdings wie „in einem irdenen Gefäß“. Das ist die Kernaussage.
Das klingt für unsere Ohren beinahe vornehm; die Leute damals haben es direkt
verstanden: Juwelen bewahrt man nicht ein einem Wegwerfgefäß auf.
Ist doch wohl klar.
Stellen Sie sich Champagner in einer gebrauchten „Red Bull“-Dose vor…
Oder: ich hatte in meinem Leben immer mal wieder teure Kameras. In Indien
habe ich einmal eine Kamera in Zeitungspapier eingewickelt und in einer
Plastiktüte getragen. Niemand kam auf die Idee, was ich da hatte.
Etwas Wertvolles, wo man es nie erwartet: Gottes Herrlichkeit im Menschen …
Genau das ist es, was uns hier gesagt wird:
Der Mensch wie ein Tontopf, das billigste Gefäß für den kostbarsten Inhalt.
Paulus hat diesen Gedanken auf die Spitze getrieben, indem er immer wieder
mal auf sich selber verwies:
Guckt mich an:
Ich habe mich in meinem Leben einmal gewaltig geirrt; ich habe die Gemeinde
Christi verfolgt. Nicht gerade eine tolle Empfehlung für ein Führungsamt oder
einen Führungsanspruch in eben dieser Gemeinde. Und trotzdem haben sich
meine Worte durchgesetzt. Gott spricht durch mich.
Oder:
Ihr sagt: Der Mann kann nicht reden. In Briefen ist er großartig, aber wenn er
hier vor uns steht, dann ist er eine Niete. Miese Performance und miese Show.
Und Paulus sagt: Das muss auch so sein.
Warum? Damit man Wort Gottes und menschliche Eitelkeit unterscheiden
kann. Damit die Herrlichkeit Gottes, mit der er beschlossen hat, inmitten eines
Menschen, inmitten der Menschheit zu wohnen, als solche deutlich und
unverwechselbar erkennbar wird.
Sucht Gott nicht in dem, was eine gute Figur abgibt.
Sucht Gott nicht unter den Reichen, den Schönen, den Klugen.
Sucht Gott nicht bei den Erfolgreichen.
In der Regel findet ihr ihn gerade da nicht, in der Regel genau da, wo ihr ihn
nicht vermutet, unter Umständen in genau so einer Gemeinde, in welcher ihr
euch befindet, unter Umständen sogar in eurem eigenen, verzagten,
verzweifelten, unklaren Herzen.
Aber was ist nun dieser Schatz Gottes in den irdenen Gefäßen, die wir jeweils
sein können und unter Umständen sein sollen?
Und da komme ich auf wieder auf das zurück, was ich immer wieder, nicht nur
in der Flüchtlingsarbeit, als sehr berührend erlebt habe. Nämlich die oft völlig
unprätentiöse Barmherzigkeit und das Mitgefühl, das Menschen gegenüber
anderen aufzubringen fähig waren.
Ich erinnere mich an eine Frau, die in ihrer KU-4 Gruppe mit einem völlig
renitenten, giftigen, dickköpfigen, uneinsichtigen doofen Kind zu tun hatte und
dann nach einer langen Klage über die Verhältnisse sagen konnte: Wer denn,
wenn nicht wir, kann diesem Kind Liebe zeigen / bringen und sei es nur für
diese paar Tage?
Und da, liebe Gemeinde, leuchtete etwas von der Herrlichkeit Gottes in Jesus
auf. Genau das ist es.
Und das soll es bleiben.
Gott begibt sich unter uns, in uns, um uns und unsere Verhältnisse zu heilen.
Den Hass und den Gram sinnlos machen.
Und deshalb werden wir wahrscheinlich weiter Flüchtlingen in aller
Freundlichkeit und Fairness begegnen, die uns möglich ist.
Vielleicht befinden wir uns – gerade wir- in einem Friedens- und
Versöhnungsprogramm von historischen Ausmaßen.
Unter Umständen stehen wir an der Schwelle der Versöhnung zwischen
Religionen, die sich Jahrhunderte feind waren.
Vielleicht finden Sie diesen Gedanken gerade heutzutage äußerst befremdlich.
Aber sagen Sie mir, wie man Hassprediger besser widerlegen kann, als durch
unvoreingenommene Nächstenliebe, die im Gegenüber zuerst ein Kind Gottes
vermutet?
Niemand hat gesagt, dass dieser Weg leicht ist. Natürlich darf man dem
Verbrechen keinen Raum geben.
Aber wir werden unter Umständen etwas entdecken, was Paulus mit den
Worten beschreibt:
… jedesmal rettet mich sichtbar und offenkundig die Kraft des Lebens, die von
Jesus ausgeht.
Und das ist unsere Berufung.
AMEN
© Kai-Uwe Hecker, Pastor in Stelle